Fraunhofer ISE legt ganzheitliches Energiemodell für Deutschland vor: Vollständig auf erneuerbaren Energien basierendes Energiesystem ist ohne Mehrkosten möglich

Forscher des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE (Freiburg) haben erstmalig in einer Simulation auf Basis von Stundenzeitreihen ein denkbares deutsches Energiesystem untersucht, das gänzlich auf erneuerbaren Energien basiert.

Die ISE-Forscher haben mehrere Varianten berechnet und stimmen in einem Punkt überein: Ein vollständig auf erneuerbaren Energien basierendes Energiesystem führt nach erfolgter Transformation zu jährlichen Gesamtkosten, die nicht höher liegen als die jährlichen Gesamtkosten unseres heutigen Energiesystems – und zwar basierend auf heutigen Energiepreisen, also ohne Einbeziehung zukünftiger Steigerungen der Preise fossiler Energieträger.

Betrachtung von Strom- und Wärmeproduktion, einschließlich der Senkung des Energieverbrauchs durch energetische Gebäudesanierung
In der Studie wurden die Kosten für neue Technologien nach Erreichen der Marktreife und hoher Marktdurchdringung gemäß einer Analyse der Internationalen Energieagentur IEA zu Grunde gelegt. Die Mobilität und industrielle Prozesswärme sind nicht Teil der zeitaufgelösten, stündlichen Modellierung. Ihr Beitrag zum Energieverbrauch wird jedoch in der Gesamtbilanz mit berücksichtigt.
Das Neuartige des Modells ist einerseits die ganzheitliche Betrachtung von Strom- und Wärmeproduktion, einschließlich der Senkung des Energieverbrauchs durch energetische Gebäudesanierung. Andererseits wurde eine systematische Optimierung vorgenommen, um aus der Vielzahl möglicher Kombinationen aus Technologien und Effizienz-Maßnahmen ein volkswirtschaftliches Optimum zu ermitteln.

Energetische Gebäudesanierung spielt eine entscheidende Rolle für die Energiewende
"Wie könnte unsere Energieversorgung 2050 aussehen und was kostet sie? Diesen Fragen sind wir in einer stundenweisen Simulation von Strom- und Wärmesektor nachgegangen", erläutert Dr. Hans-Martin Henning die Ziele der Studie. Er ist stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE und Leiter des Bereichs Thermische Anlagen und Gebäudetechnik.
Die energetische Gebäudesanierung spielt für die Energiewende eine entscheidende Rolle. Ohne eine Reduzierung des Heizenergiebedarfs auf etwa 50 Prozent des heutigen Wertes reicht das technische Potenzial von Wind und Sonne nicht aus, um eine sichere Versorgung zu gewährleisten. Umgekehrt senken die Einbeziehung des Wärmesektors und die entsprechende Berücksichtigung von Wärmespeichern die nötigen elektrischen Speichergrößen erheblich.

200 Gigawatt Photovoltaik-Leistung  und 130 Gigawatt Solarthermie-Kapazität denkbar
Unter Berücksichtigung realistischer technischer Potenziale umfasst ein denkbares "100 Prozent"-Szenario 170 Gigawatt Windenergie auf dem Land und 85 Gigawatt offshore, 200 Gigawatt Photovoltaik und 130 Gigawatt Solarthermie.
Gegenüber heute bedeutet das bei Windenergie auf dem Land einen Faktor sechs, bei Photovoltaik den Faktor sieben. Es gäbe auch viele zentrale Wärmespeicher, wie sie in Dänemark seit vielen Jahren erfolgreich im Einsatz sind und stark weiter ausgebaut werden. Es wurde davon ausgegangen, dass nur ein kleiner Anteil der bereits heute genutzten Biomasse – jährlich 50 Terawattstunden – für den Strom- und Wärmesektor verwendet werden, so dass die restliche Biomasse für Verkehr und industrielle Prozesse zur Verfügung steht.

Überschussstrom kann in synthetisches Erdgas umgewandelt werden
Bei einem voll erneuerbaren und autarken System wären 70 Gigawatt Power-to-Gas Anlagen nötig, die Überschussstrom in synthetisches Erdgas umwandeln. 95 Gigawatt zentrale Gaskraftwerke – teilweise mit optionaler Wärmeauskopplung zur Einspeisung in Wärmenetze – würden für die Rückverstromung sorgen; diese Kraftwerke dienen der komplementären Stromversorgung bei nicht ausreichender Leistung aus Wind und Sonne.

Power to Gas erst nötigt, wenn der Anteil der erneuerbaren Energien an Strom und Wärmeversorgung 70 % übersteigt
Die vollständige Deckung mit erneuerbaren Energien ist ein Extremszenario. Deutschland ist in ein europäisches Verbund-Stromnetz eingebunden und zudem werden fossile Energien in den nächsten Jahrzehnten noch eine wesentliche Rolle spielen. Deshalb wurden auch Rechnungen mit Stromimport und -export und fossilen Energien durchgeführt. Unter diesen Bedingungen verringern sich die Extremwerte der installierten Leistung deutlich. So wird die Umwandlung von Strom in synthetischen Brennstoff (Power to Gas) erst benötigt, wenn der Anteil der erneuerbaren Energien an Strom und Wärmeversorgung 70 % übersteigt. Diese Rechnungen geben zugleich Hinweise auf den Weg der Transformation unserers Energiesystems.

Entscheidung über die tatsächliche Ausgestaltung ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe
»Für die Studie wurde ein komplettes Energiesystem im Strom- und Wärmesektor mit Speichern und Verbrauch simuliert. Dabei haben wir für jede Stunde des Jahres die Versorgung detailliert berechnet«, so Diplom-Ingenieur Andreas Palzer, der gemeinsam mit Hans-Martin Henning die Varianten errechnete. Zur Kostenoptimierung wurde in mehreren Millionen Simulationsläufen das gesamte Energiemodell für ein vollständiges Jahr in dieser Weise durchgerechnet.
"Wir wollten auf wissenschaftlicher Basis zeigen, was und zu welchen Kosten unter Einbeziehung heute grundsätzlich verfügbarer Technologien möglich ist. Die Entscheidung über die tatsächliche Ausgestaltung ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe", hebt Henning hervor. Und weiter: "Erforderlich ist sicher ein flexibler Mix, der neben Technik und Ökonomie auch Aspekte wie Landschaftsplanung, Akzeptanz und die Einbeziehung vieler Investoren umfasst".
 

13.11.2012 | Quelle: Dr. Hans-Martin Henning, Fraunhofer ISE; Foto: Rainer Strum/pixelio.de | solarserver.de © EEM Energy & Environment Media GmbH

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