Max-Planck-Institut für Chemie: Der nukleare GAU ist 200-mal wahrscheinlicher als gedacht; weltweit höchstes Risiko einer radioaktiven Verseuchung in Westeuropa

Katastrophale nukleare Unfälle wie die Kernschmelzen in Tschernobyl und Fukushima sind häufiger zu erwarten als bislang angenommen.Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz haben anhand der bisherigen Laufzeiten aller zivilen Kernreaktoren weltweit und der aufgetretenen Kernschmelzen errechnet, dass solche Ereignisse im momentanen Kraftwerksbestand etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten können und damit 200-mal häufiger sind als in der Vergangenheit geschätzt.

 „Nach Fukushima habe ich mich gefragt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein solcher Unfall wieder passiert, und ob wir die Verbreitung der Radioaktivität mit unseren Atmosphärenmodellen berechnen können", kommentiert Jos Lelieveld, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz.

Dass das Risiko einer solchen Katastrophe höher ist als bislang angenommen, belegt nun eine Studie.

Westeuropa könnte einmal in etwa 50 Jahren radioaktiv kontaminiert werden

Die Forscher ermittelten auch, dass die Hälfte des radioaktiven Cäsium-137 bei einem größten anzunehmenden Unfall mehr als 1.000 Kilometer weit transportiert würde. Die Ergebnisse zeigen, dass Westeuropa – inklusive Deutschland – wahrscheinlich einmal in etwa 50 Jahren mit mehr als 40 Kilobecquerel radioaktivem Cäsium-137 pro Quadratmeter belastet wird.

Ab dieser Menge gilt ein Gebiet laut der Internationalen Atomenergie Behörde IAEA als radioaktiv  kontaminiert. Die Forscher fordern aufgrund ihrer Erkenntnisse eine tiefgehende Analyse und Neubetrachtung der Risiken, die von Kernkraftwerken ausgehen.

Den Ergebnissen der Untersuchung zufolge, dürfte es einmal in 10 bis 20 Jahren zu einer Kernschmelze in einem der derzeit aktiven Reaktoren kommen. Derzeit sind weltweit 440 Kernreaktoren in Betrieb, 60 weitere befinden sich in Planung.

Schätzungen der US-amerikanischen Zulassungskommission für Kernreaktoren nicht zutreffend

Um die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze zu ermitteln, stellten die Mainzer Forscher eine einfache Rechnung an: Sie teilten die Laufzeit aller Kernreaktoren weltweit von der Inbetriebnahme des ersten zivilen Reaktors bis heute durch die Zahl der bisherigen Kernschmelzen. Die Laufzeit der Reaktoren summiert sich auf 14.500 Jahre; die Zahl der Kernschmelzen beträgt vier – eine in Tschernobyl und drei in Fukushima. Daraus ergibt sich, dass es in 3.625 Reaktorjahren zu einem GAU kommt, dem größten anzunehmenden Unfall wie ihn die Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (International Nuclear Event Scale, INES) definiert.
Selbst wenn dieses Ergebnis auf einen GAU in 5.000 Reaktorjahren aufgerundet wird, um das Risiko konservativ abzuschätzen, liegt das Risiko 200-mal höher als Schätzungen der US-amerikanischen Zulassungskommission für Kernreaktoren im Jahr 1990 ergaben.

Ein Viertel der radioaktiven Partikel wird weiter als 2.000 Kilometer transportiert

Für ihre Studien unterschieden die Mainzer Forscher nicht, wie alt ein Kernreaktor ist, um welchen Typ es sich handelt oder ob er beispielsweise in einem besonders erdbebengefährdeten Gebiet steht. So tragen sie der Tatsache Rechnung, dass es auch in einem vermeintlich sicheren Reaktor zu einer Kernschmelze kommen kann – nicht zuletzt, weil sich nicht alle möglichen Ursachen eines solchen fatalen Unfalls vorhersehen lassen. Schließlich hatte auch die Reaktorkatastrophe in Japan niemand für möglich gehalten.

Millionen Menschen wären in Westeuropa, Südasien oder USA von einer einzigen Kernschmelze betroffen
In Westeuropa wären bei einer einzigen Kernschmelze durchschnittlich 28 Millionen Menschen von einer Kontamination mit mehr als 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter betroffen. Noch höher ist diese Zahl in Südasien. Ein schwerer nuklearer Unfall würde dort etwa 34 Millionen Menschen betreffen, im Osten der USA und in Ostasien wären es 14 bis 21 Millionen Menschen.

Direktor des Max-Planck-Instituts plädiert für international koordinierten Ausstieg
„Der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie verringert zwar das nationale Risiko einer radioaktiven Verseuchung. Deutlich geringer wäre die Gefährdung, wenn auch Deutschlands Nachbarn ihre Reaktoren abschalteten“, resümiert Jos Lelieveld.
„Notwendig ist nicht nur eine tiefgehende und öffentlich zugängliche Analyse der tatsächlichen Risiken, die von Kernkraftwerken ausgehen. Vor dem Hintergrund unserer Erkenntnisse sollte meiner Meinung nach auch ein international koordinierter Ausstieg aus der Kernenergie in Betracht gezogen werden“, ergänzt der Atmosphärenchemiker.

28.05.2012 | Quelle: Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz; Bild: Daniel Kunkel, MPI für Chemie, 2011 | solarserver.de © EEM Energy & Environment Media GmbH

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