Interview mit Reiner Priggen: Kohleausstieg wird jetzt konkreter

Solarthemen 511. Reiner Priggen ist Mitglied der Kohlekommission. Als Grünen-Politiker war er Mitglied im Koalitionsausschuss aller vier rot-grünen Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen. Als Parteivorsitzender (1994-2000), Landtagsabgeordneter (2000-2017), energiepolitischer Sprecher und Fraktionschef gestaltete er die Energiepolitik des Landes entscheidend mit. Seit 2017 ist Priggen im Ruhestand ehrenamtlicher Vorsitzender des Landesverbandes Erneuerbare Energien LEE NRW.

Solarthemen: Sie haben schon manches Mal über die Zukunft der Kohle verhandelt, etwa beim Ringen um den Tagebau Garzweiler, der seinerzeit Knackpunkt rot-grüner Koalitionsverhandlungen in NRW war. Was läuft in der Kohlekommission jetzt anders?

Reiner Priggen: Erstmal grundsätzlich: Alles, was die Kommission an Aufgaben hat, hätte die Bundesregierung auch selber übernehmen können. In einer großen Koalition hat sie die Mehrheiten dafür. Sie hat das aber in eine Kommission verlagert, und da sitzen wir nun in einem gesellschaftlichen Spannungsbogen, der vom Bundesverband der Deutschen Industrie bis hin zu Greenpeace reicht. Wir sollen Vorschläge dafür liefern, wie die Regierung ihre Klimaziele für 2020 und 2030 erreicht. Das ist die spannende Herausforderung. Anders als bei Koalitionsverhandlungen, wo man einen Koalitionspartner gegenüber sitzen hat und ausloten muss, wie weit der gehen kann, sitzen hier sehr viele verschiedene Akteure zusammen. Beispielsweise ist die geschichtliche Situation der Braunkohle in der Lausitz deutlich anders als bei uns im Rheinland. Ost und West zusammenzubinden und dabei zu spüren, wie die Interessenlagen jeweils sind, und wie man eventuell zu einem Ergebnis kommen kann, das ist hochspannend.

Solarthemen: Ist das Misstrauen, dass so eine Kommission ein Laberkreis ist, aus dem nur der kleinste gemeinsame Nenner rauskommen kann, berechtigt?

Reiner Priggen: Nein. Ich erlebe eine Kommission, in die sehr gute Leute aus allen Bereichen sehr viel Zeit reinstecken. Ich erlebe diese als sehr ernsthafte, um Sachlösungen ringende Menschen. Das gilt nicht für alle, aber doch für die allermeisten. Ich habe zum Beispiel großen Respekt vor Michael Vassiliadis, dem Vorsitzenden der IGBCE, den ich vorher nicht kannte und dessen Position in Klimaschutzfragen weit entfernt ist von meiner eigenen. Wie der für seine Leute ringt und auch auf andere Menschen zugeht und zuhört, ist beeindruckend. Gleiches gilt für den Vertreter des BDEW, Stefan Kapferer, oder den Vertreter des Öko-Instituts, Felix Matthes. Das gilt auch für Vertreter der Umweltverbände. Auch für Ronald Pofalla übrigens, einen der Kommissionsvorsitzenden, der versucht, ein Ergebnis zu erzielen. Aber es ist eine extrem schwierige Gesamtlage, bei der das Ergebnis nach meinem heutigen Eindruck (dieses Interview fand am 17. Januar statt – red.) an einem seidenen Faden hängt.

Solarthemen: Hat die monatelange Arbeit – unabhängig vom Endergebnis – schon jetzt etwas gebracht?

Reiner Priggen: Die Einsetzung der Kommission hat dazu geführt, dass die Landesregierungen in den Braunkohleregionen und die Träger der lokalen Politik mit Hochdruck begonnen haben, Konzepte zu schreiben und sich miteinander zu verständigen. Die Vorstellungen, wie man das jeweilige Revier zu einer Energieregion der Zu­kunft machen könnte, sind erst in den letzten Monaten konkreter geworden. Und natürlich passiert auch etwas zwischen den einzelnen Akteuren und es passiert etwas in den Prozessen, die wir erarbeiten. Wir haben 85 Sachverständige angehört. Wir haben Exkursionen in alle Braunkohleregionen gemacht. Ich selbst bin privat seit dem Sommer dreimal in die Lausitz gefahren. Denn während ich im rheinischen Revier jedes Dorf und jedes Kraftwerk kenne, war mir die Lausitz bisher weitgehend unbekannt. Ich habe sehr viel dazugelernt – auch in jeder einzelnen Sitzung. Ich erlebe die Treffen als Gewinn, was man sonst wirklich nicht von jeder Gremiensitzung sagen kann. Die Arbeit hat viele Erkenntnisse darüber gebracht, wie wir umstellen können. Trotzdem wäre es das Schlimm­ste, wenn wir in zehn Tagen auseinandergingen ohne eine Lösung hin­zu­kriegen. Denn das würde für den Klimaschutz bedeuten, dass diese Bundesregierung, die bisher nicht in der Lage war, den Ausstieg aus der Kohle zu planen, nicht auf ein Kommissionsergebnis aufbauen könnte. Die Prozesse, die wir mit der Stilllegung von Kraftwerken in den Revieren anstoßen wollen, könnten dann nicht beginnen. Alles würde auf die nächste Bundesregierung vertagt – nach einer Bundestagswahl mit ungewissem Ergebnis. Der Stillstand ginge weiter, die kommunalen Unternehmen wüssten nicht, wie sie investieren sollen. Und selbst RWE, einer der schwierigsten Partner im politischen Diskurs, hätte keinerlei Sicherheit und Planungsperspektive. Eigentlich kann niemand, der halbwegs bei Verstand ist, verantworten, dass die Kommission scheitert. Aber ausgeschlossen ist das nicht.

Solarthemen: Reden Sie denn hauptsächlich über die Kohleregionen oder mehr über nationale Energiewende und internationalen Klimaschutz?

Reiner Priggen: Ja, wir reden intensiv über Klimaschutz, aber es geht auch sehr viel um den Austausch der verschiedenen regionalen Erfahrungshintergründe. Wenn Vassiliadis im Rheinland sagt, wir machen das sozialverträglich wie bei der Steinkohle, dann gibt es da ein Grundvertrauen. Denn alle wissen bei uns, dass wir über 100.000 Mann aus der Steinkohle herausgebracht haben, ohne dass einer arbeitslos wurde. Wenn Du im Osten den Leuten mit der gleichen Aussage kommst, wir machen das sozialverträglich, dann antworten die: „Das haben wir schon mal gehört“. Dort sind nach der Wende 90.000 Leute auf einen Schlag mit 5000 Ostmark Abfindung entlassen worden. Außerdem ist das Rheinland eine prosperierende Wissenschaftsregion, während in der Lausitz die Kohle der einzige industrielle Kern ist.

Solarthemen: Ist denn innerhalb der Kommission klar, dass an den Regierungszielen für 2030 keine Abstriche gemacht werden, oder ist das umstritten?

Reiner Priggen: Es ist klare Aufgabe der Kommission, das Reduktionsziel des Stromsektors von 65 Prozent für 2030 zu erreichen. Das lässt sich in Tonnen umrechnen und in Kraftwerken. Wir müssen auf 16 bis 18 Gigawatt Stein- und Braunkohlekapazität 2030 herunterkommen. Die Umweltseite ist nicht bereit, diesen Auftrag, den die Kommission bekommen hat, aufzugeben. Aber wir haben in der Kommission auch jede Dummheit, die man zum Klimaschutz zu hören bekommen kann, vorgetragen bekommen: Während wir Kraftwerke abschalteten, gehe in China jeden Tag ein neues ans Netz. All dieses dumme Zeug haben wir zu hören bekommen. Jetzt ist aber klar: Wenn es Strukturmittel gibt, dann muss auch die Abschaltung der Kraftwerke erfolgen. Sonst gibt es kein gemeinsames Ergebnis.

Solarthemen: Mancher in der Erneuerbaren-Szene wundert sich, dass für vielleicht 20.000 Kohle-Arbeitsplätze solch ein Bohei gemacht wird, während in der Photovoltaik in Deutschland fast 100.000 Arbeitsplätze verschwunden sind. Ist dieser Vergleich legitim?

Reiner Priggen: Absolut. In der Kommission war auch der niedersächsische Energieminister Lies, der berichtet hat, dass allein in der Windkraft im vergangenen Jahr 5000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Man muss natürlich feststellen, dass bei den Gewerkschaftsvertretern die zu 100 Prozent organisierten Arbeitnehmer im Bergbau einen anderen Stellenwert haben als diejenigen im Bereich Wind und Photovoltaik. Das ist der politische Nachteil. Aber immer wieder darauf hinzuweisen, dass durch klimapolitisches Nichtstun permanent Arbeitsplätze abgebaut werden, ist total wichtig. Es gibt noch genügend Interessenvertreter, die Klimaschutz und Energiewende für Spinnerei halten. Ich muss andererseits aber sagen, dass bei den führenden Verbänden wie VKU und BDEW inzwischen die Erkenntnis gewachsen ist, dass es in der Energiewende nur über die Erneuerbaren nach vorn geht. Und auch in der Frage der CO2-Bepreisung gibt es hier zunehmend Zustimmung.

Solarthemen: Inwieweit spielen die Erneuerbaren als konkrete Alternative in der Arbeit der Kommission eine Rolle?

Reiner Priggen: Da sind wir uns in der Kommission einig, es muss permanent überprüft werden, wie weit wir beim Ausbau der Erneuerbaren sind. Man kann nicht hehre Ziele ausgeben und dann in der Praxis einen PV-Deckel aufrechterhalten. Gerade die NRW-Landesregierung, die ja bei der PV ganz viel bewegen will, müsste sich als erstes dafür einsetzen, den Förderdeckel zu beseitigen.

Solarthemen: Wird denn eher über konkrete Vorschläge zum Ausbau der erneuerbaren Energien in den Braunkohlerevieren gesprochen oder über den Ausbau auf der nationalen Ebene?

Reiner Priggen: Es wird viel über regionale Projekte gesprochen, etwa den Vorschlag von NRW-Wirtschaftsminister Pinkwart, im rheinischen Revier 1000 MW Erneuerbare und einen 1000-MW-Hochtemperaturspeicher zu bauen, oder über die Idee, in der Lausitz Wasserstofftechnologie mit Erneuerbaren zu entwickeln. Da muss man aber schauen, dass es am Ende auch umgesetzt wird.

Solarthemen: Sollen solche Dinge dann auch konkret im Kommissionsbericht aufgelistet werden?

Reiner Priggen: Das hoffe ich doch. Und ich erwarte auch, dass jährliche Überprüfungen des Ausbaus beschlossen werden, die dann auch auf die fortlaufende Diskussion über die jeweiligen EEG-Ausschreibungsmengen eine Auswirkung haben werden.

Interview: Guido Bröer
Foto: LEE NRW

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