Interview mit Irm Scheer-Pontenagel: Erneuerbare brauchen Dynamik statt Steuerung

IRES 2012
Solarthemen 463. 1988 hat Irm Scheer-Pontenagel gemeinsam mit Hermann Scheer EUROSOLAR, die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien e.V., gegründet. Seit dieser Zeit war sie Geschäftsführerin dieser Organisation, die sich die Etablierung eines Energiesystems auf die Fahnen geschrieben hat, das zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien beruht. Die Geschäftsführung hat sie nun abgegeben. EUROSOLAR ist keine Interessenvertretung von Unternehmen, sondern sieht sich selbst als politische Vordenkerin. Die Vereinigung ist auch politisches Netzwerk, in dem Politiker aus unterschiedlichen Fraktionen kooperieren, um strukturelle Änderungen des Energiesystems zu bewirken. So ist auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Ergebnis dieser politischen Arbeit.

Solarthemen: Sie haben sehr lange die Geschäfte von EUROSOLAR geführt. Was ist der Grund, diese Aufgabe nun in andere Hände zu übergeben?

Irm Scheer-Pontenagel: Alles hat seine Zeit. Als Hermann Scheer starb, war klar, dass sich einiges verändern würde. Andererseits war ich selbst jemand, der EUROSOLAR mit aufgebaut hat und somit sehr daran interessiert, dass die Arbeit für die Organisation und die Mitglieder nach seinem plötzlichen Tod nicht unterbrochen wird. Das war im ersten Jahr nicht einfach.

Doch es war wohl auch geplant und ist nun nicht überraschend, dass EUROSOLAR eine neue Geschäftsführung bekommt.

Ja, das hat mit der langen Zeitspanne zu tun. Seit 1988 habe ich die Organisation mit aufgebaut. So war ein Wechsel zu gegebener Zeit zu erwarten und von mir angekündigt.

Eventuell hat sich EUROSOLAR in dieser Zeit auch verändert. Wo kann und sollte sich eine Organisation wie EUROSOLAR heute engagieren? Was sind die wesentlichen Aufgaben?

Es bleibt das gleiche Ziel wie seit der Gründung mit der Forderung nach einem – und dem Einsatz für einen – Energiesystemwechsel mit erneuerbaren Energien zu 100 Prozent so schnell wie möglich. So kommen wir der Lösung der weiteren Fragen, wie Klima, Gesundheit und nachhaltiger Ökonomie, am schnellsten entgegen. Doch jeder neue Vorstand wird – auf die jeweilige Zeit und politische Herausforderung bezogen – neue Schwerpunkte setzen.

Wie realistisch ist denn zur Zeit dieses Ziel, 100 Prozent erneuerbare Energie bis 2050 oder gar früher zu erreichen?

Dieser Strukturwandel geht wesentlich schneller, als man zunächst gedacht hat. Das zeigte sich ja gerade in Deutschland nach der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Allerdings kann es immer wieder politische Rückschläge geben, so wie die Rücknahme des Atomausstiegs. Als Hermann Scheer im Bundestag als Abgeordneter verabschiedet wurde, da war der nächste Tagesordnungspunkt die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke. Eine politische Wende brachte dann erst das Reaktorunglück in Fukushima. Man darf aber nicht vergessen, wie rasant sich seitdem das Denken in Gesellschaft und Politik mit der Forderung nach Alternativen entwickelt hat. Leider wurde das bei Interessengruppen mit politischem Einfluss so nicht gesehen. Es wurden Begriffe geprägt wie „Wildwuchs“ und „Kostenexplosion“ oder „unhaltbare Subventionen“. Subventionen für die atomare und fossile Energiewirtschaft wurden in dieser Diskussion aber ausgeklammert. Auch die augenblickliche Regierung setzt daher nun mehr auf planerische Strategien als auf einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien. Das Instrument der Regierung sind dabei Ausschreibungsmodelle und Obergrenzen. Ein Markt braucht aber Dynamik mit vielen Akteuren und Investoren. Und das bedeutet, dass man Ziele als Mindestziele setzt und nicht als Deckelung. Bei dieser politischen Strategie wird Deutschland seine Vorreiterrolle bei der Energiewende weder halten noch ausbauen können. Die Hoffnung auf einen planerischen Konsens auch mit der fossilen Energiewirtschaft ist trügerisch.

Was spricht denn dagegen, mit den etablieren Unternehmen einen Konsens zu finden?

Die fossilen Energien werden auf Dauer am Markt nicht bestehen, sie sind auch ökonomisch nicht nachhaltig. An einer kompletten Konversion hin zu erneuerbaren Energien geht kein Weg vorbei. Aber es ist klar, dass dies von Betreibern fossiler Kraftwerke nicht mit voller Energie in Angriff genommen werden kann. Sie können vor dem Hintergrund ihrer eigenen ökonomischen Interessen nicht die Vorreiter des Wechsels unseres Energiesystems sein. Sicherlich investiert auch die klassische Energiewirtschaft in Erneuerbare-Energien-Projekte, aber die wahren Treiber des Wandels sind die Bürger, die sich zum Beispiel in Energiegenossenschaften zusammenschließen, um ein stärker dezentral ausgerichtetes Energiesystem aufzubauen.

Wie könnte denn die Regierung den Ausstieg aus der fossilen Energiewirtschaft voranbringen?

Den Ausstieg aus der Kohle in Deutschland sollte man über eine Verschmutzungssteuer beschleunigen.

Um noch einmal auf den Konsens zurückzukommen. Müssen wir nicht, wie es von der Regierung formuliert wird, bei den erneuerbaren Energien langsamer voran gehen, einfach weil die Stromleitungen zum Transport fehlen?

Dabei betrachtet man nur die großen Strommengen in einem weiterhin zentral ausgerichteten Stromsystem im Zusammenspiel mit den großen fossilen Strommengen. Die dezentrale Alternative mit vielen Akteuren und Investoren mit Speichersystemen und einem immer größeren direkten und regionalen – netzentlastenden – Eigenverbrauchsanteil kommt in dieser Planung nicht vor. Dabei geht es in Zukunft um die Energieautonomie als Mitbestimmung der Verbraucher als Produzenten. Es geht nicht mehr vorrangig um den Versorger und die Versorgten bzw. Verbraucher, sondern um neue Modelle für die jetzt so bezeichneten Prosumer.

Sie haben die politischen Schwierigkeiten angesprochen. Wie realistisch ist es da, bis 2040, 2050 auf 100 Prozent erneuerbare Energie zu kommen?

Das sind Zeiträume, die kaum jemand infrage stellt. Ich glaube aber, wir kommen viel früher dahin. Aber es werden nicht mehr die Deutschen die Vorreiter sein. Viele Länder haben die ökonomisch-ökologische Chance erkannt. Deutschland hat durch das EEG dazu beigetragen, dass die Photovoltaik bezahlbar wurde. Das haben gerade auch die Länder erkannt, die sich bisher fossile Energien kaum leisten konnten.

Wo sehen Sie denn jetzt die größten politischen Herausforderungen?

Unsere größte Herausforderung gründet sich darin, dass politisch erkannt wird, dass nicht Planung und Steuerung entscheidend für eine erfolgreiche Energiewende sind, sondern fördernde politische Rahmenbedingungen. Szenarien und Planspiele ersetzen keine politische Strategie. Aber leider scheint sich der Wunsch nach Planung auch in der EU-Energiepolitik durchzusetzen. Der Begriff Energieunion lässt dies vermuten. Dabei werden die Vorteile der dezentralen und regionalen Chancen von erneuerbaren Energien in jedem Land der Europäischen Union unterschätzt.

Und gibt es einen Bereich in Deutschland, den Sie strukturell für besonders problematisch halten?

Da gibt es sicherlich nicht nur einen. Aber bezogen auf das EEG ist ein großer Strukturfehler der, dass man Strom aus Erneuerbare-Energien-Anlagen zwangsweise über die Strombörse verkaufen lässt. Der ökologisch hochwertige EEG-Strom wird so zu Graustrom gemacht. Man darf aber einer Sache, die einen hohen Wert hat, nicht den Wert nehmen. Man kann nicht einerseits marktwirtschaftliche Prinzipien anwenden wollen und sie gleichzeitig außer Kraft setzen. Für Strom aus erneuerbaren Energien würde ein höherer Preis erzielt werden können, wenn er nicht zusammen mit Atom- und Kohlestrom an der Börse verramscht würde. Außerdem wird dabei nicht bedacht, dass die Grenzkosten bei Solar- und Windkraftwerken gegen null gehen. Schon daher passen sie nicht in Struktur des alten Strommarktes. Entweder müsste sich dieser also wandeln und den strukturellen Vorgaben erneuerbarer Energien folgen oder wir brauchen einen zweiten Strommarkt für erneuerbare Energien, in dem ihr Wert, ihre Vorteile zur Geltung kommen. EUROSOLAR hat dies schon sehr früh erkannt und einen anderen als den jetzigen Wälzungsmechanismus gefordert. Vor allem aber müssen wir zu einer neuen Energiemarkt-Ordnung kommen, wie es EUROSOLAR in mehreren Memoranden formuliert hat. Wir dürfen den Strommarkt nicht länger isoliert betrachten, sondern brauchen eine Kopplung mit den anderen Sektoren – das ist zunächst der Wärme-, dann aber auch der Verkehrsmarkt.

EUROSOLAR wurde durch Hermann Scheer stark geprägt. Was würde ihn heute besonders ärgern?

Da bin ich überfragt und es steht mir auch nicht zu, eine Vermutung zu äußern. Ganz sicher bin ich mir aber, dass in den Büchern von Hermann Scheer noch immer die Lösungsansätze auch für die heutigen Fragen zu finden sind. Vorausschauend hat er das schon in „Sonnenstrategie“ beschrieben und in „Energieautonomie“ sowie „Solare Weltwirtschaft“ fortgeführt. Und in seinem letzten Buch „Energet(h)ischer Imperativ“ hat er seine grundsätzlichen Ansätze dann mit besonderer Konsequenz weiter gedacht.

Sie selbst haben sehr tatkräftig und mit großer Kontinuität an der Entwicklung von EUROSOLAR mitgewirkt. Was haben Sie sich vorgenommen, nachdem Sie die Geschäftsführung abgegeben haben?

Ich werde gern die Arbeit der EUROSOLAR-Vorstände unterstützen. Außerdem bleibe ich gern Herausgeberin der Zeitschrift „Solarzeitalter“. Vor zehn Jahren haben wir mit der jährlichen Konferenzreihe „IRES – Erneuerbare Energien und Speicher“ begonnen – auch eine kluge Voraussicht von Hermann Scheer. Es ist eine sehr erfolgreiche internationale Konferenz, die wir nun mit der Messe Düsseldorf weiterführen. Auch dies für die Zukunft und mit Blick auf die Elektromobilität so wichtige Thema werde ich weiter begleiten.

Interview: Andreas Witt
Foto: EUROSOLAR e.V.

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