Thorsten Müller im Interview: Mehr Freiheit für das Parlament

Thorsten Müller ist Vorsitzender der Stiftung Umwelt­energierecht, die sich mit dem Rechtsrahmen der Energiewende beschäftigt. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Erneuerbare-Energien-Gesetz und zu energiepolitischen Beschlüssen in der EU sprachen die Solarthemen mit ihm über Auswirkungen auf die Energiewende.

Solarthemen: Der Europäische Gerichtshof hat beschlossen, das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz sei keine Beihilfe. Was hat das für Auswirkungen auf das deutsche EEG?

Thorsten Müller: Für Anlagenbetreiber keine unmittelbaren, denn das EuGH-Urteil hat nur die Beihilfeentscheidung zum EEG 2012 für nichtig erklärt. Das EEG 2017 war nicht Verfahrensgegenstand. Es gilt mit allen Rechten und Pflichten unverändert weiter. Das Urteil ist jedoch grundsätzlich auf das geltende Recht übertragbar. Seine Wirkung betrifft die Zukunft: Der Gesetzgeber hat wieder mehr Freiheiten bei Änderungen im EEG.

Welche Optionen ergeben sich daraus für den deutschen Gesetzgeber?

Er kann jetzt bei allen Fragen, die er aufgrund der Zwänge des Beihilferechts nicht selbst entscheiden konnte, überlegen, ob er die Regelungen weiter beibehalten will oder ändern möchte. Das fängt bei scheinbaren Kleinigkeiten wie der 6-Stunden-Regelung bei negativen Preisen an. Und es geht hin bis zu großen Strukturentscheidungen wie dem Vertrauen auf den dynamischen Deckel oder die freie Entscheidung über Ausschreibungsmengen. Ob auch die Ausschreibungen selbst zur Disposition gestellt werden können, ist noch nicht abschließend geklärt. Das Beihilferecht verlangt diese nun nicht mehr. Aber daneben gibt es noch weitere europarechtlich bindende Vorgaben und Strukturentscheidungen, an denen der Gesetzgeber nicht vorbeikommt, etwa in der neuen Erneuerbare-Energien-Richtlinie.

Welche Rolle erwächst dem Parlament, also dem eigentlichen Gesetzgeber, aus dem Urteil? In den vergangenen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Regierung die Energiepolitik gerade unter dem Eindruck des europäischen Einflusses im Wesentlichen bestimmen konnte?

Fast alle Änderungen im EEG mussten von der EU-Kommission genehmigt werden. Und diese Verhandlungen hat nicht das Parlament, sondern die Bundesregierung geführt. Das hatte dann sehr häufig zur Folge, dass das Parlament nur noch ein ausgehandeltes Ergebnis umsetzen durfte, aber wenig eigene Gestaltungsfreiheit hatte. Jetzt hat die EU-Kommission nicht mehr diesen Genehmigungsvorbehalt. Da­her kann das Parlament tatsächlich freier handeln. So wird in Zukunft auch wieder mehr politisch diskutiert, was sinnvoll ist, als rechtlich ausgelegt, was denn beihilferechtlich erlaubt sei.

Kann das dazu führen, dass Energiepolitik sich weniger der Verwaltung und mehr der Gestaltung der Energiewende zuwendet?

In Teilen. Wir haben nicht nur Restriktionen aus dem Beihilferecht. Es gibt viele andere Vorgaben, auch selbst gesteckte Zwänge. Insofern sehe ich kurzfristig keinen großen Kulturwandel. Aber an einzelnen Stellen, wie zum Beispiel den Regelungen zur Eigenversorgung, gibt es nun mehr politische Optionen. Bisher war das ein Punkt, der unter Beihilferecht gar nicht groß diskutiert werden konnte, weil jede Ausnahme von der Zahlungspflicht -Umlage eine Beihilfe war. Nun muss sich der Bundestag nicht mehr einfach mit dem abfinden, was in Brüssel entschieden wurde.

Sie sprachen an, dass die europäische Erneuerbare-Energien-Richtlinie auch einige Vorgaben für die nationale Gesetzgebung macht. Sind damit die Freiheiten für die nationalen Gesetzgeber wieder dahin?

Teilweise ja. Es ist ja gerade Sinn und Zweck des Europarechts, mit Mindeststandards die Regeln im Binnenmarkt anzugleichen. Dabei müssen wir zwischen zwei EU-Rechtsakten unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die Verordnungen als unmittelbar geltendes Recht. Dann gibt es für die Mitgliedsstaaten grundsätzlich gar keine Ausgestaltungsspielräume. Diese Vorgaben würden sogar gelten, wenn der deutsche Gesetzgeber etwas ganz anderes regeln würde. Dies betrifft in Zukunft etwa den Einspeisevorrang. Dieser ist ab dem 1.1.2020 in der Elektrizitätsbinnenmarktverordnung enthalten. Auf der anderen Seite gibt es daneben Richtlinien wie die Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Richtlinien geben nur Ziele und bestimmte Strukturentscheidungen vor. Innerhalb dieser Vorgaben hat der Gesetzgeber große Gestaltungsspielräume.

Angesichts von Restriktionen im deutschen Recht gegenüber einem unbeschwerten Eigenverbrauch wird die neue europäische Richtlinie von einigen begrüßt, weil sie den Eigenverbrauch – wenn auch nur bis zu einer bestimmten Anlagengröße – erleichtern soll. Doch in die Richtlinie wurden Klauseln aufgenommen, die es dem Gesetzgeber erlauben, davon abzuweichen.

Ja, das ist richtig. Wenn ein Mitgliedsstaat Strom zum Beispiel aus PV-Anlagen fördert, muss er die Eigenversorgung aus diesen Anlagen etwa nicht von der EEG-Umlage befreien. Das ist in Deutschland jedenfalls so lange der Fall, wie der 52-Gigawatt-Deckel im EEG nicht zu einem Ende der Förderung führt. Aber an bestimmten Stellen entstehen dennoch Änderungsnotwendigkeiten: So sieht das Europarecht eine wesentlich größere Rolle für gemeinschaftliche Eigenversorgung vor. Es eröffnet auch die Möglichkeit, dass Dritte Eigentümer der Anlagen sind. Die strikte Personenidentität im deutschen Recht muss daher angepasst werden. An dieser Stelle werden die Regeln zur Eigenversorgung in den Paragrafen 61ff. EEG geändert werden müssen.

Derzeit erschwert dieses Kriterium der Personenidentität viele Projekte oder verhindert sie sogar. Sehen Sie eine Chance, dass sich dies verändert?

In Teilen, aber das Europarecht ist kein Allheilmittel. Nüchtern betrachtet, ist die Erneuerbare-Energien-Richtlinie keine Revolution. Sie zwingt zu punktuellen Veränderungen, aber wir müssen nicht das Eigenversorgungsregime komplett neugestalten. Auch die Diskussion um die Eigenversorgung krankt letztlich an der bisher nicht getroffenen und nicht absehbaren Grundsatzneuregelung, wie wir mit den Strompreisbestandteilen umgehen wollen. Die wechselseitigen Vorwürfe „Sonnensteuer“ oder „Schwarzbrenner“ sind Ausdruck dieser vom Staat zu beantwortenden Umverteilungsfrage. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir mit dem bisherigen Regel-Ausnahme-Denken nicht auf einen konsistenten Rahmen und ein stimmiges Gesamtsystem mit einer positiven Rolle der Eigenversorgung kommen werden. Da geht es schlicht und ergreifend um Kostenverteilungsfragen und Marktmacht. Es ist nichts Banales, aber auch nichts, was unlösbar wäre.

Wie frei ist der Gesetzgeber denn in der Auslegung europäischen Rechts?

Das hängt vom Einzelfall ab und wird durch den – häufig mehrdeutigen und damit auslegungsnotwendigen – Wortlaut der europäischen Richtlinien festgelegt. Der Gesetzgeber hat das Erstinterpretationsrecht, er muss für sein Verständnis zunächst keine Genehmigung einholen. Wenn die EU-Kommission aber der Meinung ist, dass eine Richtlinie nicht zutreffend umgesetzt wurde, kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren anstrengen. Letztlich entscheidet dann der Europäische Gerichtshof, welche Freiheiten die Mitgliedstaaten haben.

Nehmen wir als Beispiel die Gebäuderichtlinie. Darin steht, dass neue Gebäude schon ab 2020 klimaneutral sein sollen. Davon ist in deutschen Vorentwürfen für das Gebäudeenergiegesetz wenig zu sehen. Demnach soll der jetzige Standard genügen, um diese Anforderung zu erfüllen. Ist das aus juristischer Sicht ausreichend?

Nach meiner Einschätzung nicht, aber ganz klar ist auch das nicht. Das Europarecht verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Niedrigstenergiegebäude als Standard festzusetzen. Das sind solche mit sehr hoher Energieeffizienz, deren Energiebedarf fast bei null liegt oder sehr gering ist und der zu einem ganz wesentlichen Teil aus erneuerbaren Energien gedeckt wird. Wir haben also eine ganze Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen. Was bedeutet sehr hohe Energieeffizienz, was ist ein sehr geringer Energiebedarf? Wann ist ein ganz wesentlicher Teil gegeben? Für die nationalen Gesetzgeber kann so ein Spielraum entstehen, etwa die Effizienzanforderungen geringer auszugestalten, wenn dafür der Anteil erneuerbarer Energie höher liegt.

Wie können diejenigen, die die Energiewende intensiver voranbringen wollen, das europäische Recht für sich nutzen? Können sie das überhaupt?

Sie können es immer dann, wenn es entsprechend ambitionierte Vorgaben macht, bereits in der politischen Auseinandersetzung nutzen. So schafft der Begriff des Nie­drigst­energiegebäudes Begründungslasten für die Politik, warum man bestimmte Anforderungen nicht im Gesetz formulieren möchte. In der politischen Diskussion kann das eine wirksame Unterstützung sein. Und wenn man der Meinung ist, etwas wird national nicht europarechtskonform ausgestaltet, kann man die EU-Kommission einschalten und darauf dringen, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Soweit das Europarecht aber keine ambitionierten Standards setzt, bleibt letztlich allein die politische Ebene.

Eine immer gewichtigere Problematik ist, dass Gesetze, etwa das EEG, immer umfangreicher werden. Und mit dem Energiepaket der EU kommt noch mehr Textmasse hinzu. Führt eine solche Gesetzgebung nicht dazu, dass Akteure eher gelähmt werden?

Diese Beobachtung hat einen wahren Kern. Wir kommen von fünf Paragrafen im Stromeinspeisungsgesetz 1991. Doch damals war die Welt noch relativ einfach, es gab nur ganz wenige zu regelnde Fragen. Insofern ist es unvermeidlich, dass wir in der deutlich komplexeren Situation der Energiewende mehr Normen haben. Trotzdem ist die Art und Weise, wie wir das Energierecht ausgestaltet haben, natürlich sehr problematisch. Die auf viele Gesetze verteilten Vorgaben, die fehlende Abstimmung und unklare Auslegungsfragen führen zu Rechtsunsicherheit und werden zunehmend zu einem Investitionshemmnis. Auch für den Gesetzgeber wird dies zum Problem. Niemand hat mehr den gerade zur sinnvollen Steuerung von übergreifenden Phänomenen wie der Sektorenkopplung erforderlichen umfassenden Überblick. Davon müssen wir wegkommen. Deshalb ist die Frage, wie wir ein einfacheres, klar strukturiertes und anwenderfreundliches Energierecht gestalten können, für uns in der Stiftung Umweltenergierecht ein ganz wichtiges Forschungsfeld. Normadressaten und Politik müssen wieder wissen, welche Rechte und Pflichte bestehen und wie sich Änderungen auswirken.

Haben Sie die Hoffnung, dass dies im Energierecht besser gelingt als im Steuerrecht?

Ich bin mir ganz sicher. Jedenfalls sind für wichtige Teilbereiche deutliche Verbesserungen möglich. Die derzeitige Komplexität liegt an verschiedenen Faktoren. Maßgeblich ist, dass viele Ministerien jeweils aus ihrer Eigenlogik heraus nicht abgestimmte Rechtsstrukturen entwickelt haben. Und diese Entwicklungslinien verlaufen ohne gemeinsamen Leitgedanken oder allgemein an­er­kannte Orientierungspunkte. Wenn man solche Leitplanken durch klare Strukturen schaffen würde, bin ich mir ganz sicher, dass die Rechtsentwicklung besser wird. Glücklicherweise sind wir beim Energierecht noch nicht so komplex und verkrustet wie im Steuerrecht. Die Politik steht sowieso vor Strukturentscheidungen, sei es bei der Umsetzung des EU-Winterpakets oder der unvermeidbaren Reform der Strom­preisbestandteile. Insofern ist jetzt der richtige Zeitpunkt, eine Neuordnung vorzubereiten und dann anzugehen.

Interview: Andreas Witt, Foto: Manuel Reger / Stiftung Umweltenergierecht  

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