Forscher:innen veröffentlichen Szenarien für Importstopp von Erdgas aus Russland

Zu sehen sind Erdgas-Leitungen. Die Regulierung von Wasserstoffnetzen steht noch aus.Foto: fefufoto - stock.adobe.com
Sowohl das Forschungszentrum Jülich als auch der Thinktank Agora Energiewende legen Szenarien für einen Importstopp von Erdgas vor.

Beide Publikationen sind am heutigen Donnerstag erschienen und betrachten jeweils Akutszenarien für einen Importstopp von Erdgas aus Russland und langfristige Ausstiegsoptionen. In den Akutszenarien spielt der Ersatz von Erdgas durch Kohle eine wesentliche Rolle. Über 70 Prozent der in Deutschland benötigten Energie kommt aktuell aus dem Ausland. Beim Erdgas werden laut FZ Jülich sogar 94 Prozent importiert, über die Hälfte davon aus Russland.

Forschungszentrum Jülich: Kurz-, Mittel- und Langfristszenario

Wissenschaftler:innen des Instituts für techno-ökonomische Systemanalyse (IEK3) am Forschungszentrum Jülich haben analysiert, welche Folgen ein möglicher Importstopp für Erdgas aus Russland für Deutschland hätte. Sie leiten daraus Empfehlungen ab, wie sich der russisches Erdgas kurzfristig, mittelfristig und langfristig ersetze ließe.

Weniger Heizen + mehr Kohle = 1/3 weniger Erdgas aus Russland

Ein vollständiger Lieferstopp für russisches Erdgases ließe sich demnach nicht innerhalb weniger Tage kompensieren. Allerdings ließe sich etwa ein Drittel des russischen Erdgases kurzfristig einsparen. Dafür müsste man zum Beispiel in Haushalten sowie im Gewerbe, Handel und Dienstleistungssektor die Raumtemperatur um 1 bis 2 Grad senken. Zudem ließe sich Erdgas in Industrieanlagen und Kraftwerken teilweise durch andere Brennstoffe ersetzen, wie zum Beispiel Kohle. Dadurch würden allerdings die CO2-Emissionen steigen.

Mittelfristiger Importstopp braucht mehr LNG und geregelte Gasspeicher

In einem Zeitraum von wenigen Monaten könnte ein Lieferstopp von russischem Erdgas kompensiert werden, wenn ganz Europa gemeinsame Anstrengungen unternehme. Dafür müsse man allerdings die Nachfrage reduzieren, wie bereits bei den kurzfristigen Einsparungen beschrieben.

Zusätzlich setzen die Wissenschaftler:innen auf verstärkten Import von flüssigem Erdgas (LNG) und eine staatlich geregelte Erdgasspeicherung. Das LNG könne per Schiff aus Ländern wie den USA, Australien und Katar nach Europa kommen. Nötig sei eine abgestimmte europäische Beschaffungsstrategie mit langfristigen Verträgen.

Bei den Erdgasspeichern verfüge Deutschland über die größten Kapazitäten in Europa. Etwa 20 Prozent davon befänden sich im Besitz russischer Firmen. Die letzten Monate hätten gezeigt, dass der Markt alleine insbesondere bei diesen Firmen nicht für einen ausreichenden Füllstand sorge. Daher hält das IEK3 eine staatliche Regelung für die Erdgasspeicherung für nötig. Das geplante Gesetz zur Gasspeicherbevorratung werde in den nächsten Monaten Abhilfe schaffen.

LNG-Terminals in Deutschland sollen auch Wasserstoff-Importe ermöglichen

Die Forscher:innen halten auch den Bau von LNG-Terminals in Deutschland für unumgänglich. So ließen sich innerhalb weniger Jahre alternative Transportwege für den Bezug von Erdgas erschließen. Deutschland verfügt aktuell noch über keine LNG-Terminals. Derzeit geplant sei der Aufbau einer Kapazität von maximal 30 Milliarden Kubikmeter. Das entspricht etwa einem Drittel des heutigen Erdgasbedarfs. Diese geplante Kapazität sollte schnellstmöglich fertiggestellt werden, empfehlen die Jülicher Wissenschaftler:innen. Die Terminals sollten so konzipiert werden, dass sie auch für eine zukünftigen Versorgung mit Wasserstoff gewährleisten können.

Zudem müsse der Verbrauch weiter sinken. Das betreffe vor allem Haushalte und Industrie, die in Deutschland und der EU die wichtigsten Erdgas-Verbraucher seien. Die Autor:innen setzen dabei auf stärkere Dämmung und Wärmepumpen. Um schneller voranzukommen, solle es hierfür bessere Förderprogramme geben.

Erdgas-Importe ab 2045 nicht mehr relevant

Die Energiewende führe langfristig dazu, dass Erdgas an Relevanz verliert. In einer treibhausgasneutralen Energieversorgung im Jahr 2045 spielt Erdgas laut den Analysen des IEK-3 kaum noch eine Rolle. Dann sollen nur noch gut 20 Prozent der Energie nach Deutschland importiert werden. Maßnahmen hierfür sollen eine deutlich höhere Energieeffizienz und der Ausbau der erneuerbaren Energiequellen Windenergie, Photovoltaik und Bioenergie sein.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck lehnt einen Importstopp von Erdgas als Sanktion gegen Russland ab, da da sich dieser nicht durchhalten lasse. Allerdings werde man damit umgehen können, wenn Russland die Lieferung von sich aus stoppe.

Zur vollständigen Analyse des Forschungszentrums Jülich geht es hier.

Agora Energiewende: Kurzfristiger Importstopp von Erdgas führt zu Produktionsausfällen

Auch der Thinktank Agora Energiewende hat zusammen mit Prognos und dem Wuppertal Institut haben zwei Szenarien entwickelt. Eines betrachtet einen akuten Importstopp von Erdgas aus Russland, das andere einen geplanten schnellen Erdgas-Ausstieg.

Im Falle eines akuten Importstopps wäre demnach auch mit einer europäischen Strategie Einsparungen von 290 TWh nötig.

Bereits die erste Stufe von Einsprungen bringt moderate bis starke Einschränkungen und Produktionsrückgänge mit sich. Sie beinhaltet die Absenkung der Raumtemperatur in allen Gebäuden um 0,5°C bis 1°C. Hinzu kommen kleinere Effizienzmaßnahmen wie das Abdichten von Fenstern. Dafür brauche es eine breite Kampagne für das Energiesparen und für einkommensschwache Haushalte auch finanzielle Unterstützung.

In der Strom- und Wärmeerzeugung müsse Gas durch zusätzliche erneuerbare Energien oder Kohle und Öl ersetzt werden, die Industrie müsste etwa 15 Prozent ihres Erdgases in der Prozesswärme durch andere Brennstoffe ersetzen. Die stoffliche Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie würde halbiert. Auch schnelle Effizienzmaßnahmen wie Abwärmenutzung müssten genutzt werden. Die Politik müsse einen Schutzschirm bieten und zum Beispiel die Kosten für Kurzarbeit oder Betriebskosten im Falle von Produktionsausfällen übernehmen. In Summe würde diese erste Stufe eine Einsparung von etwa 158 TWh ermöglichen.

In der zweiten Stufe beinhaltet die selben Maßnahmen, aber in größerer Intensität. Sie geht von einer Absenkung der Raumtemperatur um 1°C bis 1,5°C aus. Die Industrie müsste 33 Prozent ihrer Prozesswärme aus anderen Quellen beziehen. Die stoffliche Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie würde zudem nur noch ein Viertel gegenüber dem Niveau von 2021 betragen. So könnte Deutschland rund 261 TWh Erdgas einsparen. Die Produktion würde damit nur noch „zum Teil aufrechterhalten“ werden, um Unterbrechungen von Lieferketten durch Kaskadeneffekte entgegenzuwirken.

Ein Fünftel weniger Erdgas bis 2027

Bis 2027 könne Deutschland seinen Erdgas-Bedarf um rund ein Fünftel (200 TWh) reduzieren. Dafür brauche es eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz, den Ausbau Erneuerbarer Energien sowie die Elektrifizierung von Industrieprozessen und Gebäudewärme.

Es brauche eine geringfügige Steigerung der Sanierungsrate von 1,2 Prozent im Jahr 2021 auf 1,6 Prozent im Jahr 2027 sowie gut drei Millionen neu installierte Wärmepumpen. Es brauche sowohl klare rechtliche Vorgaben wie auch eine sozial gerechte Förderung. Zuerst müsse man die ineffizienten Ein- und Zweifamilienhäuser anpacken. Neue Öl- und Gasheizungen dürften ab sofort nicht mehr eingebaut werden. So könne man bei Gebäuden innerhalb von fünf Jahren 55 TWh Erdgas einsparen.

Im Stromsektor sei eine Einsparung von 50 TWh möglich. Dafür brauche man 44,5 GW neue Windkraftanlagen (davon 39 GW an Land) sowie 84 GW neue Photovoltaik-Anlagen.

In der Fernwärmeerzeugung könne eine Kombination von Wärmepumpen, Elektrodenkesseln, Solar- und Geothermie, Abwärme und grünem Wasserstoff 27 TWh Erdgas einsparen.

Die vollständige Analyse von Agora Energiewende, Prognos und Wuppertal-Institut ist hier zu finden.

17.3.2022 | Quelle: FZ Jülich, Agora Energiewende | solarserver.de © Solarthemen Media GmbH

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