BMWK plant kleine Reform der PV-Anlagenzertifikate

Photovoltaik auf einem Hallendach auf Ost-West-Gestellen. Die Sonne spiegelt sich auf einem der PV-Module.Foto: Guido Bröer
Photovoltaikanlagen auf Gewerbedächern leiden unter bürokratischem Aufwand und hohen Kosten durch obligatorische Anlagenzertifikate.
Die individuellen Anlagenzertifikate, die für den Netzanschluss von Photovoltaikanlagen zwischen 135 Kilowatt (kW) und 950 kW seit 2018 obligatorisch sind, haben sich zu einem massiven Kosten- und Verzögerungsfaktor für den PV-Ausbau in dieser Anlagenklasse entwickelt. In einem Branchengespräch haben das Bundeswirtschaft- und Klimaschutzministerium (BMWK) und die Bundesnetzagentur (BNetzA) jetzt ihre Vorstellungen zur Vereinfachung der Verfahren vorgestellt.

Das Problem: Im Gegensatz zum sonstigen Wachstumstrend auf dem deutschen Photovoltaikmarkt sind seit 2019 Jahr für Jahr immer weniger neue Anlagen in der Klasse zwischen 135 und 950 kW installiert worden. Die Branchenverbände machen dafür zuvorderst Kosten und Bürokratie der Anlagenzertifizierung verantwortlich. Zwei aktuelle Branchenumfragen – eine von der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie (DGS), die andere vom Bundesverband Solarwirtschaft (BSW) – belegen den Einfluss der Anlagenzertifikate deutlich. Laut BSW-Umfrage zieht sich der Prozess bis zum Erhalt der Konformitätserklärung im Durchschnitt über neun Monate. 15 bis 18 Monate sind demnach aber keine Seltenheit. Diese Größenordnung von Verzögerungen bestätigt auch die Umfrage der DGS.

Kosten für Anlagenzertifikate gefährden Wirtschaftlichkeit von Photovoltaik

Die Kosten einer Zertifizierung bewegen sich laut DGS im Mittel zwischen 10.000 und 15.000 Euro. In der BSW-Umfrage erklärten 46 Prozent der befragten Unternehmen sogar, dass dafür mindestens 20.000 Euro zusätzlich kalkuliert werden müssten. Dass derartige Summen für die Stromerzeugungskosten gerade kleinerer Anlagen im fraglichen Marktsegment zwischen 135 und 950 kW eine große Rolle spielen, liegt auf der Hand. 88 Prozent der vom BSW befragten PV-Unternehmen, die in diesem Marktsegment aktiv sind, vertraten denn auch die Ansicht, dass die zusätzlichen Kosten für die Zertifizierung und für die Anforderungen der Mittelspannungsrichtlinie VDE-AR-N 4110 „TAR Mittelspannung“ die Wirtschaftlichkeit der PV-Anlagen in Frage stellen. Auch gegenüber der DGS verneinten nur 4 Prozent der Befragten dieses Problem.

Eckpunktepapier für Photovoltaikanlagen an der Mittelspannung

In der Bundesregierung hat man das Problem mittlerweile erkannt. Am Montag dieser Woche präsentierten BMWK und BNetzA deshalb ihr Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung des Zertifizierungsverfahrens einem Kreis von eingeladenen Branchenvertreter:innen sowie von Netzbetreibern und Zertifizierern. Kernpunkt ist eine Art Bagatellgrenze von 270 kW für an des Mittelspannungsnetz angeschlossene Erzeugungsanlagen. Bis zu dieser maximalen Einspeiseleistung sollen Anlagenzertifikate künftig entfallen können. Somit wäre die doppelte Anlagenleistung wie bisher von den obligatorischen Anlagenzertifikaten befreit.

Freigrenzen für Anlagenzertifikate bei Mischanlagen

Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Der Vorschlag vom BMWK und BNetzA bezieht sich zunächst nur auf sogenannte „Mischanlagen” am Mittelspannungsnetz. Als Mischanlagen bezeichnen Netzbetreiber typische Kundenanlagen von Gewerbebetrieben innerhalb derer neben Stromverbrauchern auch Erzeugungseinheiten wie PV-Anlagen oder BHKW angeschlossen sind. Dadurch haben sie zeitweise Strombezug aus dem Netz, zeitweise speisen sie aber auch ein. Es handelt sich also gewissermaßen um große „Prosumeranlagen”, die über einen eigenen Transformator am Mittelspannungsnetz angeschlossen sind.

Die Betonung liegt hier laut Ralf Haselhuhn von der DGS Berlin-Brandenburg auf dem Wort „eigenen“. Denn falls die Kundenanlage über einen Mittelspannungstrafo des Netzbetreibers angeschlossen sei, entfalle die Zertifikatspflicht aus technisch nicht nachvollziehbaren Gründen. Für die „Mischanlagen“ jedenfalls nennt das Eckpunktepapier vom BMWK/BNetzA neben der Freigrenze von 270 kW für die maximale Einspeisung noch eine zweite Grenze von 500 kW für die Gesamtleistung der Erzeugungsanlagen. Theoretisch dürfte also eine Anlage ohne Anlagenzertifikat 500 kW stark sein, aber maximal mit 270 kW einspeisen.

Allerdings soll man nach den Vorstellungen von BMWK und BNetzA auch die installierte Leistung 270 kW nicht überschreiten dürfen, wenn kein übergeordneter Entkupplungsschutz am Mittelspannungstrafo installiert ist. Dies ist eine Konzession an die Position der Netzbetreiber, die bislang in der Regel schon ab 135 kW eine solche Einrichtung forderten. Vor allem in bestehenden Gewerbebetrieben, bei denen nachträglich eine PV-Anlage installiert werden soll, kann die Installation einer übergeordneten Entkupplungseinrichtung, die bei Einrichtung des Mittelspannungsanschlusses nicht mitgeplant wurde, richtig Probleme machen und so teuer werden, dass die Wirtschaftlichkeit geplanter PV-Anlagen dadurch gefährdet ist.

Bestandsanlagen verhindern neue PV-Anlagen

Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich dabei daraus, dass zur Bestimmung der geplanten Freigrenzen für Anlagenzertifikate alle Erzeugungsanlagen an einem Netzanschluss zusammengerechnet werden sollen. Arbeiten also in einem Industriebetrieb bereits beispielsweise ein 150-kW-BHKW und eine 100-kW-PV-Anlage, dann würde bereits für eine weitere 30-kW-Anlage auf einem weiteren Hallendach ein Anlagenzertifikat fällig, sofern die Einspeiseleistung nicht künstlich beschränkt würde. Immerhin sollen die Bestandsanlagen in diesem Beispiel von der Zertifikatspflicht nicht nachträglich betroffen sein. Ein Anlagenzertifikat, für das laut Branchenumfrage die akkreditierten Zertifizierer regelmäßig Kosten von 5000 bis 20.000 Euro geltend machen, würde aber zur Unwirtschaftlichkeit der neuen 30-kW-Anlage führen.

Kein Wunder also, dass der Kompromiss, als den BMWK und BNetzA am Montag beim Branchengespräch ihr Eckpunktepapier verkauften, bei den anwesenden Vertretern der Regenerativverbände – unter anderem von BSW und DGS – keine Begeisterungsstürme hervorrief. DGS-Experte Haselhuhn sagt: „Das bringt eine Erleichterung für viele Anlagen, aber es ist nicht der große Wurf.” Ein Fortschritt sei immerhin, dass sich nun auch die Vertreter der Netzbetreiber auf diese reduzierte Zertifikatspflicht einlassen wollten.

Wie lassen sich technische Regeln entbürokratisieren?

Denn eine weitere Problematik ergibt sich daraus, dass BMWK und BNetzA keinen direkten Zugriff auf die sogenannte Mittelspannungsrichtlinie haben. Diese technische Anschlussregel (TAR) wird ebenso wie Normen und andere technische Regelwerke von Gremien der Wirtschaft entwickelt und beschlossen. Im Fall der TAR für das Stromnetz ist es der Fachausschuss Netztechnik und Netzbetrieb (FNN) im VDE, in dem vor allem Netzbetreiber das Sagen haben.

Das Bundeswirtschaftsministerium will deshalb jetzt über eine neuerliche Änderung der NELEV, der Elektrotechnische-Eigenschaften-Nachweis-Verordnung, in den Prozess eingreifen. Bereits im Juli 2022 hatte das BMWK den Stau bei der Anlagenzertifizierung mit einer Änderung der NELEV abzubauen versucht. Doch das damals eingeführte vorläufige „Anlagenzertifikat B unter Auflagen“ hat nicht den gewünschten Beschleunigungseffekt gebracht. Wenn vier wesentliche Bedingungen erfüllt sind, müssen Zertifizierer seitdem auf Verlangen der Anlagenbetreiber vorläufige Anlagenzertifikate ausstellen. Damit darf die Anlage in Betrieb gehen. Die für die endgültige Konformitätserklärung erforderlichen Nachweise kann der Betreiber dann innerhalb von 18 Monaten nachreichen, sonst verfällt diese vorläufige Betriebsgenehmigung.

Doch die vierte Bedingung der NELEV für die vorläufige Genehmigung hat es in sich. Vorzulegen ist laut NELEV „das Konzept zur Wirkleistungssteuerung des Netzsicherheitsmanagements und zur Blindleistungsregelung sowie deren Eignung zur Umsetzung der Vorgaben des Netzbetreibers“. Und weil genau dieses Konzept nicht ohne Abstimmung mit dem Netzbetreiber erstellt werden kann, ist nach Einschätzung von BSW-Referentin Maria Roos das zeitraubende Hin und Her zwischen Anlagenplaner und Netzbetreiber, das in der Regel für die monatelangen Verzögerungen verantwortlich sei, auch seit der NELEV-Novelle 2022 weitergegangen.

DGS: Erneuerbare müssen gleichberechtigt mitreden!

Der DGS-Fachausschussvorsitzende Ralf Haselhuhn fordert deshalb, dass die Regenerativbranche bei der Entwicklung von technischen Regelwerken für die Stromnetze dringend ein gewichtigeres Wort mitzureden haben müsse als bisher. „Wir brauchen nicht nur eine Freigrenze, sondern müssen den ganzen Prozess der Zertifizierung verschlanken. Dazu sollte es eine Arbeitsgruppe geben, in der die erneuerbaren Energien gleichberechtigt mit den Netzbetreibern und Zertifizierern vertreten sind – gern moderiert von der Bundesnetzagentur. Nur miteinander können wir die Energiewende wuppen, nicht gegeneinander“.

26.4.2023 | Autor: Guido Bröer
© Solarthemen Media GmbH

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